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Demnächst als Buch: Bericht aus Biel

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Die Bieler Lauftage mit dem in diesem Jahr zum 58. Mal ausgetragenen 100-km-Lauf sind wohl den meisten Läufern ein Begriff und insbesondere in der Ultraszene gibt es kaum jemanden, dem der durch ein 1978 von Werner Sonntag verfasstes Buch geprägten Ausspruch „Und einmal musst Du nach Biel“ nicht geläufig ist. Der Lauf wurde 1959 erstmalig ausgetragen und entwickelte sich zu einer der ersten großen Herausforderungen für die aufkommende Ultralauf-Bewegung. Viele sind dem Ruf nach Biel im Lauf der Jahre gefolgt, bereits 1968 zur 10. Austragung sind erstmals mehr 1.000 Läufer im Ziel registriert, in den frühen 1980er Jahren gar erreichten mehr als 3.000 Läufer das Ziel. Dank der akribischen Arbeit der Statistiker sind mittlerweile alle historischen Ergebnisse aus Biel in der Ergebnis-Datenbank der DUV verfügbar.

Die Rekordsieger mit jeweils sieben Siegen kommen mit Helmut Urbach und Birgit Lennartz aus Deutschland, beide sind bis heute in der Laufszene des Rheinlands eine feste Institution. Birgit Lennartz ist auch knapp 20 Jahre nach ihrem letzten Sieg in Biel als Vielstarterin bei zahlreichen Volkslaufveranstaltungen im vorderen Feld zu finden und Helmut Urbach ist als Ausrichter von vielen Laufveranstaltungen in Köln ein fester Begriff. Er läuft nur noch wenig, dafür lässt er es sich nicht nehmen, immer wieder nach Biel zurückzukehren und die 100-km-Strecke im Wandertempo zu meistern. Wie 2015 erreichte er auch in diesem Jahr wieder das Ziel am Kongresshaus in Biel.

Die Zahl der Zieleinläufe über 100 Kilometer hat in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich abgenommen, 2013 erreichten erstmals nur noch weniger als 1.000 Läufer das Ziel. Das hat wohl aber auch damit zu tun, dass es heutzutage eine Fülle von Ultralauf-Veranstaltungen gibt, die mit Biel konkurrieren und teilweise noch größere Herausforderungen bieten („mehr“ Strecke, „mehr“ Höhenmeter, „mehr“ Trail). Auch das Interesse Deutscher Spitzenläufer ist in den vergangenen Jahren zurückgegangen, bei den Damen gelang Branka Hajek noch in 2010 ein Deutscher Erfolg, bei den Männern gab es zuletzt 2008 Podiumsplätze durch Matthias Dippacher und Helmut Dehaut, der letzte Sieg durch Michael Sommer datiert von 1994. Dennoch gilt der 100-km-Lauf von Biel weiterhin als einer der großen Klassiker des 100-km-Laufs und genießt insbesondere in der Schweiz selbst Kultstatus und zieht auch heute noch ein großes Starterkontingent aus Deutschland an. Wie man es auch von verschiedenen Marathon-Veranstaltungen kennt, werden auch in Biel die rückläufigen Teilnehmerzahlen über Unterdistanzen und Staffelwettbewerbe aufgefangen, sodass insgesamt in Biel 2016 mehr als 4.500 Teilnehmer registriert wurden, davon gut 1.100 auf der Hauptdistanz.

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Der 100-km-Lauf wird traditionell in einer großen Schleife mit Start und Ziel in Biel ausgetragen. Die Strecke hat im Laufe der Jahrzehnte kleinere Anpassungen erfahren und der Anteil der Asphalt-Kilometer hat dabei zugenommen, dennoch sind charakteristische Streckenabschnitte wie die holprigen Kilometer auf dem Emmendamm zwischen Kirchberg (km 56) und Gerlafingen (km 67) erhalten geblieben. Der Start zum Hauptlauf erfolgt um 22.00 Uhr, der Lauf durch die Nacht sorgt so für eine zusätzliche Herausforderung.

Seit ich selbst an Laufwettkämpfen teilnehme, stehen die 100 Kilometer von Biel auch auf meiner Agenda und in diesem Jahr hat es terminlich gepasst. Dennoch fiel die eigentliche Entscheidung erst relativ kurzfristig. Nach einem Australien-Urlaub ohne Laufschuhe bis Ende Januar hatte ich im Frühjahr zunächst nur den Marathon in Bonn angepeilt und dort nach einer normalen Vorbereitung mit moderatem Umfang (5,5 Einheiten und knapp 100 km im Wochenschnitt) eine 2:42 h erzielt. Zwar bin ich davon überzeugt, an diesem Tag alles gegeben zu haben, aber dennoch fühlte ich mich bereits kurz nach dem Rennen nicht voll verausgabt und erholte mich auch sehr schnell. Es schien, als wäre die Form noch nicht auf ihrem Zenit angelangt und so beschloss ich, Biel in diesem Jahr in Angriff zu nehmen, zumal der Termin für die Deutschen Meisterschaften über 100 km im August mir gänzlich ungelegen kam und ich auch 2016 einen 100er ins Ziel bringen wollte. Der Bonn-Marathon fand neun Wochen vor Biel statt, so dass mir nach einer Erholungswoche dann sechs Wochen Training und zwei Wochen Tapering blieben.

Da ich in Biel aber nicht nur ankommen, sondern auch eine gute Leistung erzielen wollte, warf ich in diesen sechs Belastungswochen auch einiges in die Waagschale. Tägliches Training, im Schnitt 145 Wochenkilometer, für mich bei Vollzeitjob mit zudem etwa 10 Wochenstunden Arbeitsweg eine echte Herausforderung, zumal ja auch Partnerin und andere Aufgaben nicht völlig vernachlässigt werden sollen. Zum Glück halfen Feiertage und ein Brückentag dabei, den geplanten Trainingsumfang auch zu realisieren.

Auf die ganz langen Trainingsläufe von 60/70 Kilometern verzichtete ich und beließ es bei zwei Einheiten über knapp 50 Kilometern, eine davon als Nachtlauf. Zudem holte ich mir die Tempoausdauer über zwei kleine Marathon-Veranstaltungen in Windhagen und Menden, die ich im flotten Dauerlauf absolvierte. Alles in allem konnte ich das Pensum gut schaffen, dennoch schwang immer ein wenig Sorge mit, dass die Form kippen könnte. Aber es schien alles gut zu gehen.

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Die Anreise nach Biel erfolgte am Donnerstag, gegen 22.00 Uhr kam ich in Péry etwas oberhalb von Biel in einem kleinen Hotel an. Nach einer kleinen Trabrunde nach der langen Fahrt wollte ich versuchen, so lange wie möglich zu schlafen und dann einen ruhigen Tag bis zum Start zu verbringen. Trotzdem konnte ich meinen Schlafrhythmus nur unzureichend überlisten und so hatte ich nach dem Checkout um 11 Uhr bis zum Start noch 11 Stunden Zeit. Ich fuhr zunächst in die Bieler Innenstadt zum Start- und Zielgelände. Hier erfolgte eine kurze Ortsbegehung, aber da ich weder in Turnhalle noch in der Tiefgarage länger bleiben wollte, fuhr ich wieder aus Biel heraus und besichtigte den ersten Anstieg von Port über Bellmund in Richtung Jens. Hier entdeckte ich dann einen schattigen Parkplatz am Waldrand, rollte Schlafsack und Isomatte über Kofferraum und Rückbank und versuche, trotz der aufkommenden Nervosität ein wenig Ruhe zu finden, was aber nur leidlich gelang. Perfekte Rennvorbereitung sieht sicher anders aus, aber trotzdem verbrachte ich hier zumindest ein paar Stunden außerhalb des Trubels, bevor ich gegen 18:30 Uhr mich wieder in Richtung Biel begab. Parkticket und Startnummer waren schnell geholt und so hatte ich immer noch drei Stunden Zeit bis zum Start und so lange kann man auch Umziehen, Wertsachendepot und Toilettengang nicht zelebrieren. Also tigerte ich zunehmend nervös zwischen Auto, Turnhalle und Start hin und her. Ich bewunderte diejenigen, die auf einer Matte in der Turnhalle seelenruhig schlafen oder entspannen konnten und ärgerte mich ein wenig, nicht einfach eine durchgehende Unterkunft gebucht zu haben.

Aber letztlich gingen auch diese drei Stunden vorbei. Da ich ohne persönlichen Fahrradbegleiter (Vélo-Coach) unterwegs sein würde, galt es auch die Verpflegungsstrategie zu bedenken. Ich packte drei meiner gewohnten Gels sowie Salztabletten in meine Gürteltasche und gab einen Beutel mit drei weiteren Gels, einem halben Liter Ultra-Buffer + Arginin für Kirchberg auf und hoffte so zusammen mit der offiziellen Verpflegung gut durchzukommen. Ansonsten hatte ich noch meine Stirnlampe dabei, sowie ein Buff-Tuch und ein paar Gel-Chips für Notfälle in einem Beutel am Gürtel befestigt. Etwa 30 Minuten vor dem Start begab ich mich zum Startgelände. Ich hatte die Startliste ausgiebig studiert. Neben den Schweizer Siegern von 2015 (Bernhard Eggenschwiler) und 2013 (Florian Vieux) waren in diesem Jahr auch eine Anzahl ambitionierter Deutscher Läufer am Start, vor allem Tobias Hegmann und die beiden Debütanten Karsten Fischer und Janosch Kowalczyk (beide im Januar mit 3:09 h über 50 km in Rodgau) erwartete ich weit vorne. Ich selbst hatte mir auch abgestufte Ziele gesetzt, diese gingen von Traumzielen (Neue Bestzeit/Podium) über A- (sub 7:40h/Top 6/Sieg Altersklasse) und B-Ziele (sub 8h/Top10) bis hin zum Minimalziel des erfolgreichen Zieleinlaufs (einem leichtfertigen Ausstieg sollte kein Raum gegeben werden). Die Rennstrategie war auch nicht ganz einfach. Ich wollte forsch angehen, um bei guten Beinen und passendem Rennverlauf die Traumziele im Auge zu haben, allerdings wollte ich auch die B-Ziele nicht gefährden, denn „nur“ Ankommen wäre für mich doch eine Enttäuschung gewesen, ganz zu schweigen von einem DNF.

So lief ich dann auch nach dem Start mit Sichtkontakt zur Spitze. Der Österreicher Didi Korntner hatte ein Auge auf die „Sprintwertung“ (Aarberg, km 17) geworfen und preschte volle Krafte voraus, dahinter folgten Florian Vieux, Karsten Fischer und ein paar Schweizer Läufer, die später aber wieder zurückfallen sollten. Dahinter lief ich mit Janosch Kowalczyk und Vorjahressieger Bernhard Eggenschwiler die Auftaktrunde durch die Bieler Innenstadt. Es ging aus Biel heraus, über die Aare und dann in den ersten Anstieg, bei dem es etwa 100 Höhenmeter zu überwinden galt. Ich versuchte so locker wie möglich zu laufen, denn auch wenn die Strecke für Schweizer Verhältnisse relativ flach ist, stellen für mich als Rheinuferläufer Steigungen eine große Herausforderung dar, im Training sind meine längsten Steigungen Autobahnbrücken.

Bis Kapellen (km 14,5) lief ich noch mit Bernard Eggenschwiler und Janosch Kowalczyk, dann verschärfte Bernard aber das Tempo und versuchte noch vor der Sprintwertung in Aarberg die Lücke zur Spitze zu schließen. Ich ging nicht mit, schließlich war das Anfangstempo für mich schon recht flott und ich hatte keine weitere Energie zu verschenken. So sah ich erstmal das Renngeschehen von hinten aus der Verfolgerperspektive. Didi Korntner blieb allerdings bis zur Sprintwertung in Aarberg eine Minute voraus und so näherte ich mich der nun wieder konstanter laufenden Verfolgergruppe der Favoriten wieder an, bevor nach der Verpflegung in Aarberg wieder die Post abging. Dann durften nach Lyss die Begleitfahrräder auf die Strecke und von nun an geisterten neben den Stirnlampen der Läufer auch die Fahrradlichter durch die Bieler Nacht. Das Wetter war noch recht warm, sogar ein wenig schwül und windig und in der Ferne sahen wir Blitze über den Nachthimmel zucken. Dann kam der erste Regenguss, bevor es bis gegen vier Uhr wieder für längere Zeit trocken blieb.

Didi Korntner und ein paar der Schweizer Läufer wurden von mir eingeholt, ich lief in dem Auf und Ab bis km 25 auch noch mal zu Karsten Fischer auf, bevor dieser aber wieder forcierte und ich an der folgenden Verpflegungsstelle (wo ich ohne Vélo-Coach zur Getränkeaufnahme etwas mehr Zeit benötigte) endgültig den Kontakt verlor. Von nun an lief ich für den Rest des Rennens alleine, auch wenn es noch ein paar Überholvorgänge geben sollte.

Die Zwischenwertung in Oberramsern bei km 38 erreichte ich als fünfter in 2:42 h, etwas flotter als geplant, aber der Rennverlauf hatte es so ergeben. Die Beine waren nicht so locker wie erhofft, aber insgesamt hatte ich noch keine großen Schwierigkeiten. Irgendwo im Wald zwischen Oberramsern und Kirchberg sah ich aus dem Augenwinkel einen Läufer am Wegrand, der austreten musste, konnte aber in diesem Moment nicht zuordnen, wen ich da überholt hatte. Im Nachhinein betrachtet muss das Janosch gewesen sein, so dass ich nun im Rennen an Position 4 lag. Ich hatte nun auch immer öfter ein offizielles Begleitfahrrad zur Seite, insbesondere auf dunklen Streckenabschnitten sehr willkommen. Ich fühlte mich nun doch zunehmend etwas müde, der Anstieg von Oberramsern nach Buechhof hatte weitere Körner gekostet.

Marathon-Durchgang bei etwa 3:00 Stunden, die Halbzeit dann nach handgestoppten 3:36:50 h, keine offizielle Zwischenzeitnahme, sondern ganz unspektakulär ein Schild auf freier Strecke, das unmittelbar zuvor aus der Dunkelheit auftaucht. Jetzt ging es tendenziell leicht bergab, hin zur Zeitnahme und Teilstreckenwertung in Kirchberg, gleichzeitig auch Ziel des neu ins Leben gerufenen Ultramarathons über 56 km. Kurz vor Kirchberg sorgte dann ein etwa 10 cm über dem Boden gespanntes Flatterband für einen Schreck. Das Band riss und ich konnte einen Sturz vermeiden, aber zweifelte nun an der Streckenführung und suchte etwa eine Minute nach Hinweisen auf die Strecke, bis mir der herannahende Begleitfahrer versicherte auf dem richtigen Weg zu sein und tatsächlich erreichte ich Zeitnahme und Verpflegung kurz darauf. Aber wer immer der Witzbold war…

In Kirchberg griff ich erstmal bei der offiziellen Verpflegung zu, suchte dann mit den Augen vergeblich nach dem in Biel abgegebenen Verpflegungsbeutel und lief schließlich ohne weiter. Es würde auch mit der offiziellen Verpflegung zu schaffen sein, auch wenn ich den sehr stark angerührten Iso deutlich schlechter vertrug als den gewohnten Ultra-Buffer.

Nach Kirchberg beginnt der Abschnitt auf dem Emmendamm, ein schmaler Pfad, dunkel und stellenweise über sehr holprigen Untergrund. Die persönlichen Radbegleiter durften diesen Abschnitt auch nicht befahren und stießen erst bei km 67 wieder zu den Läufern. Ich war froh, dass sich zu diesem Zeitpunkt ein offizieller Radbegleiter an meiner Seite befand, dessen Fahrradlampe deutlich stärker leuchtete als meine Discounter-Funzel. Ich versuchte weiter mit ausgreifendem Schritt diese heikle Passage zu absolvieren, verlor aber dennoch etwas an Tempo. Zur Hälfte des Abschnitts hörte ich dann auch einen Läufer nahen und wurde kurz darauf von Tobias Hegmann überholt, der zu diesem Zeitpunkt sehr druckvoll lief und einen starken Eindruck machte. Ich blieb bis zum Ende des Emmendamms halbwegs dran, musste aber dann an der Verpflegung anhalten während Tobias durchlief und schnell außer Sicht geriet.

Das nächste Missgeschick dann kurz darauf: Meine GPS-Uhr knallte zu Boden, das Gummi-Armband hatte sich schlicht und ergreifend durchgescheuert. Kurz gestoppt, Uhr aufgelesen in den nun leeren Beutel am Gürtel gestopft (die drei Gel vom Start hatte ich plangemäß bis Kirchberg verbraucht). Von nun an ohne Uhr ganz nach Gefühl. Die Euphorie war aber nun erstmal verflogen. Es war drei Uhr, ich merkte die müden Beine, die Strecke sollte für die nächsten 10 Kilometer ansteigend verlaufen und ich war platt. Ich legte, von den Verpflegungspunkten abgesehen, die ersten Meter im Gehtempo zurück und erwartete jeden Moment von weiteren Läufern überholt zu werden. Auch den offiziellen Radfahrer sah ich nun seltener, schließlich forderte der nun Viertplatzierte Tobias Hegmann höhere Aufmerksamkeit. Ein Tief während eines 100-Km-Laufs ist nichts ungewöhnliches, entscheidend ist dieses zu überwinden.

So lief ich so gut es ging und versuchte so viel Strecke wie möglich zwischen den Gehpassagen laufend zurückzulegen und diese so kurz wie nötig zu gestalten. In der nachträglichen Auswertung der GPS-Daten benötigte ich für den Abschnitt von km 68 bis 78 bei etwa 140 Höhenmetern knapp 54 Minuten, inklusive Gehpausen und zwei Verpflegungsstopps. Gefühlt war ich noch langsamer, aber ich schaute nicht auf die Uhr in der Gürteltasche, um mich nicht zusätzlich verrückt zu machen. Als bei km 78 der letzte große Anstieg überwunden war und mich immer noch kein weiterer Läufer überholt hatte, fasste ich neuen Mut und liess es auf der steilen Strecke hinunter ins Tal der Aare so gut es geht rollen. In Arch bei km 80 zeigte eine LED-Uhr 4:05 Uhr an, für mich der einzige Hinweis auf die Laufzeit. Unter acht Stunden sollte ich auf jeden Fall schaffen können. Es gab keine Steigungen mehr und ich lag ja immer noch an 5. Position. Es fing wieder an zu regnen, aber das machte mir nichts aus. Also auf in den Endspurt.

Den Verpflegungspunkt bei km 81 ließ ich dann auch links liegen und bog auf den etwas matschigen aber noch gut belaufbaren Uferweg längs der Aare ein. „Keine Gehpausen mehr zwischen den Verpflegungspunkten“ lautete mein Credo jetzt, lieber das Tempo dosieren und durchlaufen. „Hauptsache Du wirst nicht durchgereicht“, nach vorne verschwendete ich zu diesem Zeitpunkt keinen Gedanken. Aber es lief wieder spürbar besser und lockererer als zehn Kilometer zuvor. Bei km 87, kurz vor der Verpflegung sah ich dann auf einmal vor mir einen Läufer auftauchen, dem ich mich auch schnell näherte. Es war Vorjahressieger Bernhard Eggenschwiler, der große Probleme hatte. An der kurz darauf folgenden Verpflegung gab es ein letztes Gel und noch mal Flüssigkeit, dann wieder weiter und Bernhard hinterher, der die Verpflegung ausgelassen hatte. Aber ich war schnell vorbei und er sollte noch Minuten und Plätze verlieren.

Es wurde nun langsam hell, die Vögel und auch einige Frösche machten sich bemerkbar. Nach der Querung der Aare tauchte irgendwo bei km 91 dann erneut ein Läufer vor mir auf. Zwar näherte ich mich deutlich langsamer als zuvor Bernhard Eggenschwiler, aber ich war dennoch klar schneller. Das war die Chance, die ich mir nicht entgehen lassen durfte. Ich ließ die Verpflegung bei km 92 aus und zog langsam an Tobias Hegmann vorbei. Ich machte so gut es ging Druck, drehte mich nicht um und hörte, wie sich nach einiger Zeit die Schritte des Verfolgers entfernten und schließlich nicht mehr zu hören waren. Ich musste jetzt durchziehen, keine Schwäche zulassen und alles daran tun, diesen 3. Platz ins Ziel zu bringen. So wurde der Abschnitt von km 90 bis 95 der schnellste 5er-Abschnitt der zweiten Rennhälfte. Ich sehnte das km 95-Schild herbei und wagte erst dort einen zaghaften Blick zurück, es war niemand zu sehen. Nun war wieder jeder Kilometer ausgeschildert und sie wurden zu meinem persönlichen Countdown fürs Podium: km 96, nur noch 4 bis ins Ziel, km 97, nur noch 3 – endlich ging es weg vom Uferweg entlang der Aare und in die Stadt hinauf zum Ziel am Kongresshaus. Dann km 98, die letzten beiden Kilometer und weiterhin kein Läufer, der mir den 3. Platz noch streitig machen konnte. Ein Stück entlang der Bahnstrecke und dann das beliebteste Fotomotiv auf der Strecke, das Schild bei km 99 – jetzt konnte ich endgültig genießen. Die Straße zum Kongresshaus, dann eine letzte Kurve und der Blick auf das Ziel. An die Endzeit hatte ich wenig Gedanken verschwendet, es würde ohnehin mein langsamster 100er werden, das war seit dem Tief zwischen Gerlafingen und Bibern klar aber trotzdem freute ich mich, als beim Blick auf die Zieluhr eine 7:37:XX zu lesen war, da hätte ich in Bibern auch keinen Cent drauf gesetzt.

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So erreichte ich bei den Bieler Lauftagen 2016 als Dritter im Gesamteinlauf über 100 km und Sieger meiner Altersklasse M35 das Ziel um 5:37 Uhr nach einer Laufzeit von 7:37:48 Stunden. In Empfang genommen wurde ich von den Organisatoren, bekam ein gelbes Shirt, das mich als Gesamtdritten auswies und meine Medaille und wurde in die Zielverpflegung entlassen. Die auf den letzten 20 Kilometern in der Anspannung vergessene muskuläre Ermüdung machte sich nun wieder bemerkbar, aber das Hochgefühl hielt an, hatte ich doch meine persönlichen Ziele erreicht und mich in einer starken Konkurrenz bis auf das Podium vorkämpfen können. Die beiden Erstplatzierten waren für mich unerreichbar, hier hatte der Schweizer Florian Vieux, der bereits 2013 triumphieren konnte, in 7:19:24 Stunden den Sieg davongetragen, gefolgt vom lange führenden Karsten Fischer, der in 7:22:23 Stunden das Ziel erreichte. Wenige Minuten hinter mir folgten mit Janosch Kowalczyk auf Rang vier (7:41h, 1. M20), Tobias Hegmann (7:45h, Rang 5, 1. M40) und Hanspeter Scherr (7:46h, 1. M45) drei weitere Deutsche als Sieger ihrer Altersklasse, ehe sich Bernhard Eggenschwiler als Schweizer Vizemeister in 8:01 h ins Ziel kämpfte.

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Bei den Damen siegte Romy Sandra Roulet in 8:47:08 Stunden vor Ornella Poltéra (8:57:58) und Corine Gruffaz (9:00:50), beste Deutsche wurde Sabine Engel als neunte (9:55:03). Nach dem spannenden Rennverlauf gestaltete sich der Rest meines Biel-Aufenthaltes recht unspektakulär: Verpflegung, Dusche und das Warten auf die Siegerehrung. Mittlerweile gingen heftige Regengüsse über Biel nieder und wir bedauerten ein wenig die vielen Läufer, die noch draußen auf der Strecke unterwegs waren. Vermutlich nicht zuletzt deshalb gab es in diesem Jahr eine hohe Aussteigerquote von 24%, die sich bereits mit einer Teilstreckenwertung nach km 38, 56 oder 76 zufrieden geben mussten.

Am Samstagmittag verließ ich Biel und machte mich mit Schlafstopp auf den Weg zurück nach Hause, um eine große Lauferfahrung reicher. Ob ich im nächsten Jahr wieder komme, das vermag ich nicht zu sagen, aber an dem Ausspruch „Einmal musst Du nach Biel“ ist ein dicker Haken dran.

Fotos: Privat/Veranstalter, Grafik: Rey Grafik GmbH

7 Kommentare zu „Demnächst als Buch: Bericht aus Biel“

  1. Moritz, das ist einfach immer noch der Hammer. Nochmals herzlichen Glückwunsch. Eine solche Willenskraft die du da so an den Tag bzw. Nacht legst, wünsche ich mir mal für mich. Dein Bericht ist einfach klasse, noch muss ich aber nicht nach Biel, aber schauen wir mal.

    Wir sehen uns. VG LM Kay

  2. Hallo Moritz,

    so, nochmal an dieser Stelle zunächst einen herzlichen Glückwunsch zu dieser wahnsinnigen Leistung. Da können wir Monster mehr als stolz sein, Dich im Team zu haben. Und der gemeinsame „Trainingsmarathon von Menden“ hat sich im Nachhinein ja sogar nochmal gelohnt.
    Ein beeindruckender Bericht über einen Lauf, den ich persönlich wohl nie machen werde. Als Deichkollege in der gleichen Stadt bewundere ich vor allem Deine Disziplin, wie man lange Strecken im Training morgens um fünf vor der langen Fahrt zur Arbeit absolviert. Ich habe gelernt, wie man sich sich bei einem Ultralauf ernährt, wie man die lange Zeit vor dem Start totschlagen muss und dass Du in „Traum-„, „A-“ und „B-„Ziele aufteilst. Bewundertswert ist auch Deine scheinbar immer vorhandene, perfekte Renntaktik, und dies auch mitten in der Nacht bei Dauerregen. Mal eben einen Marathon in drei Stunden als Zwischenzeit! Gemeinsam haben wir das Erlebnis der ausgefallenden Uhr, was mir persönlich ja auch zweimal zur Bestzeit verholfen hat.
    So, jetzt regeneriere erstmal gut! Und falls Du nochmal langsam auslaufen möchtest, kann ich ja am Deich vielleicht mithalten oder am nächsten Freitag, falls wieder was geht:)

    Bis die Tage
    Harald

  3. Hi Moritz, nochmals an dieser Stelle einen herzlichen Gückwunch zum Treppchen in Biel. Das ist ein Ergebnis auf das du ewig Stolz sein kannst. Dazu dieser super Bericht nach so kurzer Zeit. Deine niedergeschriebenen Erlebnisse sind echt beeindruckend! Nur wo ist dein Beutel mit der Eigenverpflegung ;-)
    Bis Freitag in Horrem!

  4. Hallo Moritz,

    nochmal herzlichen Glückwunsch zu dieser tollen Leistung!! Bewundernswert wie du dich trotz kleiner Pannen durchgekämpft hast. Durch deinen gleichzeitig informativen und unterhaltsamen Bericht kann man sogar ein bisschen mit dabei sein.
    Erhol dich gut! Lg Sabine

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